June 02, 2006:

[achtung! kunst] *ausstellung* Frankfurt, Museum für Moderne Kunst: Drei Generationen a uf 7,3 Quadratmetern - "Humanism in China"
 
     
 

faz, 20.05.2006
China in der Fotografie
Drei Generationen auf 7,3 Quadratmetern
Von Andreas Platthaus

[image] Feng Jianxin: Winter 1987 Weichang, Hebei: Ein Soldat
verabschiedet sich von seiner Frau und seinem Kind, die ihn besucht haben

22. Mai 2006
Als fünf deutsche Museumsdirektoren vor zwei Jahren in Schanghai eine
Ausstellung über chinesische Gegenwartsfotografie besuchten, wollten sie
ihren Augen nicht trauen. Nicht, weil dort eine besonders
avantgardistische oder zumindest ungewöhnliche künstlerische Praxis
ihren Ausdruck gefunden hätte, sondern weil das genaue Gegenteil geboten
wurde: reine Dokumentarfotografie.

Drei chinesische Kuratoren hatten in jahrelanger Recherche quer durch
das ganze Land mehr als hunderttausend Negative aus Archiven und
Privatbesitz ausgewertet, die besten 590 Aufnahmen dann abziehen lassen
und diese Bilder ohne Rücksicht auf jedwede Chronologie thematisch
gruppiert. Drei Museen in Guangdong, Schanghai und Peking zeigten die
Schau. Sie hieß „Humanism in China“, ausgewiesen war sie als „eine
zeitgenössische Bestandsaufnahme der Fotografie“.

Es geht nicht um Denkweisen

[image] Wu Jialin, 1997 Kunming, Yunnan: Fuhrwerk, Lastwagen und ein zur
Landung ansetzendes Flugzeug

Nun gibt es den Begriff „Humanismus“ im Chinesischen nur als englisches
Lehnwort, und der Originaltitel der Schau stellt denn auch in
unübersetzbarer Weise mehr aufs Allgemein-Menschliche ab, als die hehre
und mutmaßlich ohne große Rücksichten auf die ideengeschichtliche
Brisanz des Begriffs erarbeitete englische Übersetzung, die der
Ausstellung schon in China als zweiter Titel beigegeben war, vermuten
ließe. Vor allem aber kaschiert die Rede vom Humanismus die eigentliche
Sensation der Schau: die Betonung des Individuums und seines Schicksals.
Es geht gerade nicht mehr um Denkweisen.

In chinesischem Verständnis sind Masse und einzelner zwar nicht so
simpel zu trennen wie im Westen, aber die Bildsprache der gezeigten
Fotografien ist eine, die an jene Kunst denken läßt, die unter Exilanten
in den abgelegenen chinesischen Provinzen des siebzehnten und
achtzehnten Jahrhunderts entstand. Das waren emblematische
Darstellungen, die erst durch die Betitelung den vollen Gehalt der meist
von großer poetischer Schönheit erfüllten Bilder offenlegten.

Titel auf schmalen Holzleisten

[image] Liu Dewang, September 1999 Xi'an, Shaanxi: Glücklicher Gewinner
der Wohlfahrtslotterie

So ist es auch bei „Humanism in China“. Jedem Bild ist neben Ort und
Datum auch eine kurze Beschreibung des Motivs beigegeben. Und durch sie
bekommt manche auf den ersten Blick nur virtuose Aufnahme erst ihre
wahre Brisanz. So das vom „Mann, der in den Westen gegangen ist, um Geld
zu machen“. In seinen Armen hält er einen sterbenden Verwandten. Mehr
erfahren wir nicht. Daß der Westen Chinas gerade nicht die Gegend des
Landes ist, wo man Geld macht, und deshalb das Bild eines der
Verzweiflung ist, die weit über den Moment der Aufnahme hinausgeht - das
muß man wissen. Aber ohne die Beschriftung wüßten wir nicht einmal, daß
es sich bei dem Elenden um einen Glücksucher handelte.

Von wem die Titel stammen, die unscheinbar auf schmalen Holzleisten
unter den fast ausnahmslos in identischer Größe abgezogenen Bildern
angebracht wurden, ist unbekannt. Bei manchen darf man die Kuratoren als
Autoren vermuten, anderes dürfte sich selbst aus chinesischer
Perspektive niemand anderem als dem Fotografen selbst enthüllt haben.
Wer weiß schon aus reiner Bildbetrachtung heraus, daß es der lokale
rabiate Kader der Kommunistischen Partei war, der einen am Boden
liegenden Alten niedergeschlagen hat? Das Bild bleibt auch für Chinesen
bewußt uneindeutig, während der Text deutliche Klage führt. Und für
deutsche Augen ist die schriftliche Ergänzung in den meisten Fällen
ohnehin unentbehrlich zum Verständnis.

Doppelt bemerkenswert

[image] Chen Ling, November 2001 Harbin, Heilongjiang: Vor dem
Winterschwimmen erst ein Erinnerungsfoto

Es werden viele deutsche Augen auf die Bilder blicken, denn die Schau
ist von den fünf Direktoren für deren Häuser eingeworben worden - obwohl
sie nie für eine Tournee außerhalb Chinas konzipiert war, stimmte Peking
zu. Mit dem Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, wo seit heute die
erste Präsentation geöffnet ist, und den Folgestationen - Staatsgalerie
Stuttgart, Pinakothek der Moderne in München, Berliner Museumsinsel und
Staatliche Kunstsammlungen in Dresden - ergibt sich ein Quintett der
prominentesten deutschen Museen, in deren gängige Ausstellungspraxis das
Schema einer dokumentarischen Fotoausstellung allerdings nicht ohne
weiteres zu passen scheint. Am ehesten durfte man ein solches Engagement
vom Frankfurter MMK erwarten, das sich seit seiner Gründung durch den
Ankauf von großen Konvoluten zeitgenössischer Fotografie auszeichnet. Es
ist somit konsequent, den Reigen der Ausstellungen hier zu beginnen.

Die Präsentation ist doppelt bemerkenswert, weil es keine deutsche
Nachkuratierung der Schau gibt. Udo Kittelmann, Direktor des MMK,
spricht deshalb von einem „Ausstellungsdokument“: Die Bilder werden in
der Anordnung gezeigt, die für die drei chinesischen Museen und vor
allem auch den Original-Katalog gewählt wurde. Deshalb ist die
ursprüngliche Publikation mitsamt den langen chinesischen Begleitessays
und kurzen englischen Zusammenfassungen noch einmal für das deutsche
Publikum aufgelegt und durch eine beigelegte Übersetzung der
chinesischen Aufsätze ergänzt worden. Ziel ist die Simulation eines
bestimmten Ausstellungserlebnisses für ein vollkommen anderes Publikum -
gewagt, aber allemal interessant. Nur um eine Winzigkeit zu kleine
Räumlichkeiten des MMK verhinderten, daß es eine genaue Wiedergabe des
ursprünglichen Arrangements gab; ansonsten sehen wir nun das, was man
auch in China sah.

Eine Leistungsschau

[image] Wang Wenlan, 1991 Shanghai: Mit dem Rad zur Arbeit

Aber sehen wir es wirklich? Unser Blick ist in diesem Fall der
exotische. Daß die Ausstellung daheim Furore gemacht hat, ist wenig
überraschend. Es muß ein Schock gewesen sein, Bilder aus dem eigenen
Land zu betrachten, die nichts mehr mit den gängigen Propagandafotos
einer Nation in immerwährendem Aufbruch zu tun haben. Aids-Spitäler,
Drogenentzugskliniken, Arbeitslose, Bettler - all das paßte nicht ins
offiziöse Bild von China. Und wenn einiges davon auch noch in der
Abteilung „Desire“ zu finden ist - außerdem gibt es noch „Existence“,
„Relationship“ und „Time“ -, dann ist der Bruch mit der früheren
offiziellen Politik komplett. Aber mittlerweile darf man wohl annehmen,
daß Peking weiß, daß Offenheit bei der Debatte innenpolitischer Probleme
im Westen gern gesehen wird. Kein Grund also, die Schau zum Politikum zu
erklären.

Was sie indes ist: eine Leistungsschau. Selbstverständlich müßte man es
schon als Kunst betrachten, bei hunderttausend Bildern nicht ein paar
hundert erstklassige zu finden. Doch der souveräne Blick der mehr als
zweihundertfünfzig Fotografen, ihre Sicherheit der Bildfindung, ihre
universal gültige Ästhetik - das alles darf als Sensation gelten. Man
kommt aus dem Schauen nicht mehr heraus und auch nicht aus dem Staunen.
Und da zudem, wie beim MMK üblich, das ganze Haus auf das große Thema
eingeschworen wurde, ist ein Besuch dieses Auftakts besonders reizvoll.
In den anderen Häusern wird es keine Ergänzung von „Humanism in China“
um die auf Grundlage offiziöser Fotos entstandenen Bilder von Thomas
Bayrle oder die Dokumentation einer China-Reise durch Barbara Klemm
geben. Und auch nicht die klugen Arbeiten von Sege Spitzer, der sich mit
seinem chinesischen Kollegen Ai Wei Wei zusammengetan hat, um zwei Säle
mit allerdings nur teilglasierten Nachbildungen der teuersten
chinesischen Vase zu füllen. Mag sein, daß das wieder traditionellen
westlichen Erwartungen entspricht. Aber ein Haus ins Zeichen eines
großen Gedankens zu stellen, das ist eine zutiefst chinesische Idee.
Bis 27. August. Der großartige Katalog, vertrieben von der Edition
Braus, kostet 35 Euro.

http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~EA70BC5BC0E0F4B9F93 A2705507158F62~ATpl~Ecommon~Scontent.html


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http://www.mmk-frankfurt.de/mmk_d/03_china_ix.html

Im Jahr 1955 präsentierte der Fotograf Edward Steichen seine legendäre Fotoausstellung »The Family of Man« im Museum of Modern Art in New York als ein umfassendes Portrait der Menschheit.

Im Jahr 2006 entwirft die Ausstellung »Humanism in China – Ein fotografisches Portrait« ein
anderes, sehr viel spezielleres bildnerisches Panorama: Anhand von 590 Dokumentar– aufnahmen chinesischer Fotografen aus den vergangenen fünf Jahrzehnten zeigt sie die Menschen in China vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Modernisierung. Ausgerichtet vom Guangdong Museum of Art, Guangzhou, umspannt die Ausstellung vier große Themenbereiche: Existenz, Beziehung, Begehren und Zeit.

Hinter dem äußeren Glanz des wirtschaftlichen Booms in Chinas Metropolen suchen chinesische Fotografen die Innenseite eines kulturellen Umbruchs, der in seiner zeitlichen Verdichtung für ein einzelnes Menschenleben kaum zu fassen scheint.Die Ausstellung »Humanism in China – Ein fotografisches Portrait« zeigt den Alltag der Menschen in den Städten und auf dem Land. Die gesellschaftlichen Umwälzungen der vergangenen 50 Jahre dokumentieren sich in Bildern, die nichts verstellen und nichts inszenieren wollen. Gerade weil der Blick nicht bestimmt ist von einer fremden Wahrnehmung, sondern die Sicht einer in China heranwachsenden Generation selbst zum Ausdruck bringt, ist diese Ausstellung mehr als eine fotografische Schau: Sie ist ein Zeitdokument.

  Erstmals seit ihrer Präsentation im Guangdong Museum of Art im Jahr 2003 und im Shanghai Art Museum im Jahr 2004 wird diese Ausstellung nun außerhalb Chinas gezeigt. Für ihre Realisierung
haben sich in einer bislang einmaligen
Kooperation fünf deutsche Museumsinstitutionen zusammengeschlossen: die Staatsgalerie
Stuttgart, die Bayerischen Staatsgemälde– sammlungen, München, die Staatlichen Museen zu Berlin, die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und das Museum für Moderne Kunst, Frankfurt. Nach ihrem Auftakt im MMK in Frankfurt, der Partnerstadt von Guangzhou, wird die Ausstellung in einem Zeitraum von zwei Jahren in allen fünf Städten zu sehen sein.

Als ein Museum für zeitgenössische Kunst können wir über den dokumentarischen und  künstlerischen Charakter von Fotografie nachdenken, können der grundsätzlichen Frage »was Bilder vermögen« nachgehen und können und wollen uns immer wieder neu in die gesellschaftlichen Diskurse der Gegenwart einmischen. Steichens Beweggrund damals war eine Ausstellung zu schaffen, die mit dem Medium und der Sprache der Fotografie den Dialog zwischen den Menschen und ihren verschiedenen Kulturen zu fördern vermag. Mit der Präsentation von »Humanism in China – Ein fotografisches Portrait« in Deutschland, im MMK, setzt sich dieser Gedanke in seiner drängenden Aktualität fort.

Zur Ausstellung liegt ein umfangreicher Katalog vor, erschienen in der Edition Braus im Wachter Verlag.

 

 

with kind regards,

Matthias Arnold (Art-Eastasia list)

http://www.chinaresource.org
http://www.fluktor.de

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